Sprachdeprivation – wenn Sprache fehlt
Warum frühe Gebärdensprache Leben verändert – Ein Blick auf Sprachdeprivation
Sprachdeprivation bedeutet, dass Menschen in den ersten Lebensjahren keine voll zugängliche Sprache lernen konnten. Besonders häufig betrifft das gehörlose Kinder, wenn sie nicht früh mit der Gebärdensprache in Berührung kommen. Ohne eine Sprache, die sie verstehen, können sie ihre Umwelt nur schwer begreifen und ihre Gedanken nicht richtig ausdrücken.
Für Auszubildende in sozialen und pflegerischen Berufen ist es wichtig, diese Zusammenhänge zu kennen. Wer versteht, wie entscheidend Sprache für Entwicklung und Teilhabe ist, kann Menschen mit Hörbeeinträchtigung besser unterstützen und dazu beitragen, dass Kommunikation für alle möglich wird.
INFOBOX: Was bedeutet Sprachdeprivation?

Wie es dazu kam – ein Blick in die Geschichte
Die Ursachen für Sprachdeprivation liegen in der Geschichte der Gehörlosenbildung. Über viele Jahrzehnte galt in Deutschland der sogenannte oralistische Ansatz. Das bedeutete: Gehörlose Kinder sollten sprechen und Lippen lesen lernen, statt Gebärdensprache zu nutzen. Gebärden galten als „Hilfsmittel“ oder sogar als Hindernis für die sprachliche Entwicklung.
In den Schulen für gehörlose Kinder war das Gebärden oft verboten. Kinder, die trotzdem gebärdeten, wurden bestraft oder mussten heimlich gebärden. Diese Haltung führte dazu, dass viele Kinder keine Sprache hatten, die sie wirklich verstehen konnten. Sie hörten keine Laute und durften gleichzeitig ihre natürliche visuelle Sprache nicht benutzen.
In Gehörlosenvereinen und privaten Kreisen entwickelte sich die Gebärdensprache dennoch weiter. Erwachsene gaben ihr Wissen an jüngere Generationen weiter, und in vielen Städten entstanden regionale Varianten. Diese Orte waren entscheidend für den Erhalt der Gebärdensprachkultur. Auch wenn sie gesellschaftlich lange nicht anerkannt war.
Erst mit der rechtlichen Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache im Jahr 2002 änderte sich das. Seitdem gilt DGS offiziell als eigenständige Sprache mit eigener Grammatik und Struktur. Dadurch wurde auch der Zugang zu Sprache für gehörlose Kinder verbessert.
Folgen fehlender Sprache in der Kindheit
Wenn Kinder in den ersten Lebensjahren keine Sprache lernen, fehlen ihnen wichtige Grundlagen für die Entwicklung. Sie können Gedanken, Gefühle und Erlebnisse nur schwer ausdrücken. Auch das Verstehen von Regeln, Zusammenhängen und sozialen Situationen wird erschwert.
Sprache ist die Basis für fast alles Lernen. Sie ermöglicht, Dinge zu benennen, Fragen zu stellen und Erfahrungen zu teilen. Kinder, die keine Sprache haben, können zwar vieles beobachten, aber sie haben kaum Möglichkeiten, das Gesehene sprachlich zu verarbeiten. Das wirkt sich auf viele Lebensbereiche aus:
- Kognitive Entwicklung: Ohne Sprache fällt es schwer, abstrakt zu denken oder komplexe Zusammenhänge zu verstehen.
- Emotionale Entwicklung: Gefühle lassen sich schlechter benennen und regulieren. Manche Kinder wirken verschlossen oder reagieren stärker auf Stress.
- Soziale Entwicklung: Kommunikation mit anderen Kindern und Erwachsenen wird zur Hürde. Das kann zu Isolation oder Missverständnissen führen.
- Bildungschancen: Ohne Sprache ist es fast unmöglich, schulische Inhalte vollständig zu erfassen.
Wenn Kinder erst spät Zugang zur Gebärdensprache bekommen, können sie vieles nachholen, aber nicht alles. Früh erworbene Sprache prägt, wie Menschen später denken, lernen und sich ausdrücken. Deshalb ist es so wichtig, dass gehörlose Kinder früh Kontakt zur DGS bekommen und auch ihr Umfeld – Familie, Erzieher*innen, Lehrkräfte – die Sprache versteht und nutzt.
Dialekte und regionale Varianten
Die Geschichte der Sprachdeprivation hat auch die Entwicklung der Gebärdensprache in Deutschland beeinflusst. Weil viele gehörlose Kinder früher keinen einheitlichen Zugang zur DGS hatten, entstanden in verschiedenen Regionen eigene Gebärden und Ausdrucksweisen.
Jede Schule für gehörlose Kinder war über Jahrzehnte eine kleine Sprachinsel. Dort lernten die Kinder Gebärden voneinander, oft ohne Kontakt zu anderen Schulen. Lehrer*innen versuchten, Lautsprache zu vermitteln, während die Kinder untereinander gebärdeten – meist heimlich. So entwickelten sich viele regionale Varianten, die sich von Stadt zu Stadt unterschieden.
Auch die Gehörlosenvereine, die nach der Schulzeit besucht wurden, verstärkten diese Unterschiede. Sie waren Treffpunkte, an denen Sprache, Kultur und Gemeinschaft lebendig blieben. Wer in Hamburg aufwuchs, gebärdete manches anders als jemand aus München oder Dresden und beide verstanden sich trotzdem.
Erst in den letzten Jahrzehnten, durch Medien, Internet und überregionale Bildung, hat sich der Austausch zwischen verschiedenen Gebärdensprachgemeinschaften deutlich erhöht. Plattformen wie SignDict oder SpreadTheSign ermöglichen es heute, Varianten miteinander zu vergleichen. Dadurch vermischen sich einige Gebärden oder werden einheitlicher. Andere, vor allem traditionelle Zeichen, bleiben bewusst erhalten, weil sie als Teil regionaler Identität gelten.
Hinweis: Übersetzung gewünscht?
Spreadthesign – ein internationales Wörterbuch für die Gebärdensprachen der Welt
Vor fast 20 Jahren hat der in Schweden gegründete gemeinnützige Verein European Sign Language Center begonnen, ein internationales Wörterbuch für Gebärdensprachen aufzubauen. Heute umfasst die Datenbank ca. 15.000 Gebärden bzw. Wörter pro Sprache. Der Verein ist Herausgeber einer App für Smartphones und Tablets namens „Spread Signs”. Finanziell unterstützt wird der Gründer und Koordinator Thomas Lydell sowie das internationale Team – jedes vertretene Land hat ein eigenes Team – durch die Europäische Union im Rahmen des Erasmus+-Programms.
Übrigens: „Spread the sign” kommt aus dem Englischen und bedeutet wörtlich übersetzt „Verbreite das Zeichen”.
Was Fachkräfte wissen sollten
Wer in sozialen oder pflegerischen Berufen arbeitet, begegnet Menschen mit ganz unterschiedlichen Sprachbiografien. Besonders bei gehörlosen oder schwerhörigen Personen ist es wichtig zu verstehen, dass nicht alle denselben Zugang zu Sprache hatten. Manche haben von klein auf DGS gelernt, andere erst als Jugendliche oder Erwachsene. Wieder andere nutzen eine Mischform aus Gebärden, Lautsprache und Lippenlesen.
Für die Kommunikation bedeutet das: Geduld, Aufmerksamkeit und Offenheit sind entscheidend. Sprachdeprivation kann dazu führen, dass eine Person sich kürzer ausdrückt, weniger komplexe Sätze verwendet oder bestimmte Fachbegriffe nicht kennt. Das ist kein Zeichen von Desinteresse oder geringer Intelligenz, sondern die Folge eines ungleichen Zugangs zu Sprache.
Fachkräfte können hier viel bewirken:
- Aktiv auf nonverbale Signale achten: Mimik, Gestik und Körperhaltung geben oft Hinweise auf Bedürfnisse oder Emotionen.
- Einfache Sprache verwenden: Kurze Sätze und klare Begriffe erleichtern das Verständnis.
- Gebärdensprache wertschätzen: Schon ein paar Grundgebärden zeigen Interesse und schaffen Vertrauen.
- Unterstützende Materialien nutzen: Bilder, Symbole oder Gebärdenvideos helfen, Inhalte zugänglich zu machen.
- Dolmetschende einbeziehen: Bei wichtigen Gesprächen sorgen sie für Verständigung auf Augenhöhe.
Bei Campus Berlin wird diese Haltung aktiv vermittelt. Auszubildende lernen, Gebärdensprache als gleichwertiges Ausdruckssystem zu verstehen und Kommunikationsbarrieren zu erkennen. So werden sie auf eine inklusive Berufspraxis vorbereitet, in der alle Menschen verstanden werden können.
Fazit: Sprache ist Teilhabe
Sprache ist mehr als Kommunikation. Sie bedeutet Zugang zur Welt, zu Bildung und zu anderen Menschen. Wenn gehörlose Kinder keine Gebärdensprache lernen dürfen, wird ihnen ein wichtiger Teil dieser Teilhabe genommen. Sprachdeprivation ist deshalb nicht nur ein sprachliches, sondern auch ein gesellschaftliches Thema.
Die Deutsche Gebärdensprache schafft Barrierefreiheit, ermöglicht Bildung und stärkt das Selbstbewusstsein. Sie sollte von Anfang an selbstverständlich zum Leben gehörloser Kinder dazugehören – in der Familie, in der Schule und in der Ausbildung.
Für Fachkräfte in sozialen und pflegerischen Berufen heißt das: aufmerksam bleiben, Unterschiede anerkennen und Gebärdensprache als gleichwertige Sprache verstehen. So entsteht echte Inklusion.
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